Michael Busch: "Mit der Überbrückungshilfe III plus können wir den Verlust von rund 70 Millionen Euro aus beiden Lockdowns nicht kompensieren."
Wie kann man Amazon auf Dauer Paroli bieten und bei einem technischen Produkt sogar überholen? Michael Busch, CEO des Bücherfilialisten Thalia, hat es vorgemacht. Und zwar mit einer stringenten Omnichannel-Strategie.
Am Anfang war das Wort. Genauer gesagt das Buch. Es wurde als erstes massenhaft über das Internet verkauft. Haupttreiber der Entwicklung war Amazon-Chef Jeff Bezos, der Mitte der 90er Jahre den ersten großen Online-Händler für Bücher aufbaute und damit die Grundlage für sein E-Commerce-Imperium legte.
Daher war für die stationären Bücherhändler schon vor der Jahrtausend-Wende der Druck groß, selbst in den Online-Handel einzusteigen. Im Modehandel entstand dieser Zugzwang erst in den Zehnerjahren dieses Jahrhunderts, nachdem Zalando den kostenlosen Versand und Umtausch hierzulande salonfähig gemacht und quasi aus dem Nichts einen der größten Online-Modehändler Europas geschaffen hatte.
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Im deutschen Buchhandel gehört Thalia zu den größten Pionieren des Multichannel-Handels. Somit war es im Grunde nur logisch, dass das 102 Jahre alte Traditionsunternehmen kürzlich vom Beratungsunternehmen Infront zum "Champion der digitalen Transformation" gekürt wurde, und zwar in der Kategorie Konsumgüter und Handel.
Es gibt also einiges, was stationäre Modehändler vom Transformator Thalia lernen können. Und vermutlich auch müssen. Schließlich waren im Zuge der Corona-Pandemie selbst die größten Online-Skeptiker gezwungen, einen eigenen Online-Vertrieb aufzubauen. Dadurch wurde eine neue Wirklichkeit im Buchhandel geschaffen, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt.
Die TextilWirtschaft hat den CEO und Gesellschafter Michael Busch zu seinen Transformationserfahrungen befragt. Der Manager erklärt, wie er den harten Wettbewerb mit Amazon überlebt hat, wie das Erfolgsprodukt Tolino entstanden ist und wie es sein Unternehmen durch die Corona-Krise geschafft hat.
TextilWirtschaft: Wo steht Thalia bei der Transformation derzeit?
Michael Busch: Trotz bzw. gerade wegen Corona kommen wir zügig voran. Wir haben die Lockdowns für Innovationen und die Weiterentwicklung unserer Dienstleistungen genutzt. Das heißt: Wir bauen Omnichannel konsequent weiter aus. Denn die Pandemie hat schließlich dazu geführt, dass die Kundinnen und Kunden verstärkt online einkaufen. Deshalb ist die immer engere Vernetzung von On- und Offline ein großes Thema bei Thalia. In den vergangenen 18 Monaten wurde eine ganze Reihe neuer Services entwickelt, die dem veränderten Einkaufsverhalten der Konsument:innen entgegenkommen.
Thalia baut sein Netzwerk an Abholstationen stetig aus. Dort können online bestellte Bücher Tag und Nacht abgeholt werden.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel Scan & Go. Damit ermöglichen wir das kontaktlose Bezahlen. Oder: Interessierte können über die Thalia-App jederzeit ihrem Lieblingsbuchhändler folgen und sich Buchempfehlungen holen. Wir testen 1:1-Chats in der Kundenberatung und bauen das Netzwerk unserer Abholstationen aus. Diese Beispiele beruhen auf Ideen aus unserem Hause, die von unseren Teams entwickelt wurden. Das ist ein zentraler Punkt bei unserem Wandel hin zu einer hochflexiblen und lernenden Organisation: Um Innovationen an den Start zu bringen und unsere ambitionierten Ziele zu erreichen, brauchen wir in Teilen eine neue Art der Zusammenarbeit, eine Weiterentwicklung unserer Kultur. Auch das gehört zum Transformationsprozess dazu.
Michael Busch ist geschäftsführender Gesellschafter sowie
Vorsitzender der Geschäftsführung der Thalia Bücher GmbH. Nach seinem Abschluss zum Diplom-Volkswirt an der Universität zu Köln war der gebürtige Düsseldorfer (Jahrgang 1964) bei einer Unternehmensberatung im Bereich Unternehmenssanierung/Merger and Acquisitions tätig. 1993 trat Busch als Controller in die Douglas Holding AG. Zwei Jahre später wechselte er als Mitglied der Geschäftsleitung in den Buchbereich der
Douglas-Gruppe. 1998 wurde er zum Geschäftsführer bestellt. Ab Januar 2003 war er Bereichsvorstand Bücher im Vorstand der Douglas-Gruppe sowie von September 2012 bis März 2015 Vorstandsmitglied der Douglas Holding AG. Nach der Trennung von Douglas war Busch weiterhin CEO der Thalia Bücher GmbH (kurz: Thalia). 2016 wurde er zusammen mit drei anderen Partnern auch Gesellschafter des Unternehmens.
Was waren die größten Hürden der vergangenen Jahre?
Erstens: Wettbewerbsverzerrungen aufgrund einer verfehlten Steuerpolitik, die den internationalen Internetkonzernen Vorteile verschafft. Zweitens: Die insgesamt noch fehlende Bereitschaft von Unternehmen, neue Partnerschaften und Kooperationen einzugehen, um die Wettbewerbsfähigkeit im Handel zu verbessern. Drittens: Zu wenig Flexibilität bei der Gestaltung des Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses aufgrund starrer Tarifverträge. Und: Fehlende Investitionen in die Attraktivität unserer Innenstädte, welche die Basis für florierende Geschäfte bilden.
Was plant Thalia an neuen Projekten?
Als eine Folge von Corona werden wir uns intensiv mit lokalen Logistiklösungen auseinandersetzen. Dabei spielt auch der Aspekt Nachhaltigkeit eine Rolle. Schließlich kann durch kürzere Anfahrten oder durch die Auslieferung von Waren mit Lastenrädern CO2 eingespart werden. Der Ausbau unserer Partner-Plattform steht auf dem Programm. Und zusammen mit anderen Handelsunternehmen die Förderung von Projekten für lebendige Innenstädte.
"Das Tolino-Ökosystem ist in Deutschland auf Augenhöhe mit Kindle im Markt etabliert", sagt Michael Busch.
Zu den größten Erfolgen von Thalia gehört die Mitentwicklung des Tolino-Readers, mit dem Sie Amazon ernsthaft Konkurrenz machen. Wie ist es zu dem Projekt gekommen?
Der Tolino-Vorläufer Oyo, den wir bei Thalia mit Partnern 2010 entwickelt hatten, brachte nicht den gewünschten Erfolg. Amazons Kindle saß der deutschen Buchbranche zu der Zeit bereits im Nacken, sodass wir unbedingt handeln mussten, um das neue E-Reading-Geschäft nicht komplett an die Amerikaner zu verlieren. Vor diesem Hintergrund entstand die Tolino-Allianz der führenden deutschen Buchhändler, die von uns, Weltbild, Hugendubel und Bertelsmann gegründet wurde. Der Reader kam in kürzester Zeit auf den Markt. Ein echtes Husarenstück! Heute ist das Tolino-Ökosystem in Deutschland auf Augenhöhe mit Kindle im Markt etabliert. Rund 2.000 unabhängige Buchhandlungen haben sich mittlerweile unserer Allianz angeschlossen.
Fakten und Zahlen zu Thalia Mayersche (kurz: Thalia)
- Gründung: Thalia wurde 1919 in Hamburg gegründet, Mayersche 1817 in Aachen. Fusion zu Thalia Mayersche im Jahr 2019
- Geschäftsführer: Michael Busch (CEO), Marcus Droste, Bettina Günther, Roland Kölbl, Ingo Kretzschmar, Corinna Offer
- Eigentümer: Gesellschafterfamilien Herder, Kreke, Busch, Falter und Göritz
- Filialen: 470 in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Umsatz: über 1,1 Mrd. Euro im Geschäftsjahr 2020/21. Das entspricht einem Plus von 7% gegenüber dem Vorjahr. Das Stationäre Geschäft schrumpfte um 16% nach minus 40% im Vorjahr. Der E-Commerce wuchs um 65% auf rund 500 Mio. Euro (Vorjahr: plus 40%). Anteil des Online-Geschäfts am Gesamtumsatz: 40% (Vorjahr: 28%).
- Beteiligungen: Thalia hält die Hälfte der Anteile an den mehr als 30 Buchhandlungen der Orell Füssli AG in der Schweiz
- Mitarbeiter: rund 6000
- Schaden durch Corona: rund 65 Mio. Euro. Davon übernimmt der Staat vermutlich einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag
- Marktanteil von Thalia im E-Book-Markt: 25%
- Sortiment: Bücher, Kalender, Papeterie, Film, Musik, Spielwaren, Geschenke u. Trendprodukte, E-Books, E-Reader, Hörbücher
Wie hat es Thalia generell geschafft, den harten Wettbewerb mit Amazon zu überstehen?
Wir haben schon sehr früh auf Omnichannel gesetzt. Zudem entwickeln wir uns und unsere Marke beständig weiter. 2018 haben wir uns in einem internen Prozess neu erfunden. Unsere Vision ist „Eine Welt, in der Inhalt zählt“. Es geht uns darum, dem allgemeinen Trend zur Oberflächlichkeit tiefergehende Inhalte und Geschichten entgegenzusetzen. Wir orientieren uns dabei an unserem Wertekompass: Demokratie, Bildung, Familie und Nachhaltigkeit. Das honorieren viele unserer Kundinnen und Kunden. Weitere wichtige Erfolgsfaktoren sind die schon angesprochenen Partnerschaften und Kooperationen in der Branche und darüber hinaus. Die Tolino-Allianz ist für mich der Best Case für so eine Zusammenarbeit.
Wie hoch ist der Online-Anteil beim Verkauf physischer Bücher?
Aktuell liegt der Anteil bei 35 bis 40%. Das macht deutlich, wie wichtig der stationäre Handel bei den Buchsortimenten weiterhin ist, obwohl Bücher aufgrund der Buchpreisbindung überall das gleiche kosten. Ich leite daraus ab, dass es immer noch einen großen Bedarf an persönlicher Beratung gibt. Und dass die Buchhandlung ein inspirierender Ort ganz in der Nähe ist, den man gerne aufsucht.
Thalia betreibt 460 Geschäfte in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Welche Tipps können Sie stationären Modehändlern geben, die jetzt in Bezug auf E-Commerce vor ähnlichen Entscheidungen stehen wie einst Thalia?
Mode interessiert mich als Teil unserer Kultur. Als Buchhändler kann und will ich der Modebranche jedoch keine Tipps geben. Dazu ticken unsere Branchen zu unterschiedlich. Was ich sagen möchte ist, dass wir Händler im Nicht-Lebensmittel-Sektor enger zusammenarbeiten sollten. Bei unserer Initiative und Plattform Shopdaheim, die im März 2020 gegründet wurde, ist das bereits gelebte Praxis. Wir wollten damals aktiv dazu beitragen, dass die Leute während der Lockdowns ihre lokalen Läden auch online erreichen können. Heute sind rund 25.000 Händler aus mehr als 100 Branchen auf der Plattform.
Der Umsatz ist im Geschäftsjahr 2020/21 um 7% auf 1,1 Mrd. Euro gewachsen. Wie fiel das Ergebns aus?
Das Ergebnis wird erst zum Jahresende vorliegen. Ich kann heute schon sagen, dass wir unsere Ziele verfehlen, aber schwarze Zahlen schreiben werden. Der im stationären Geschäft verlorene Umsatz konnte teilweise im E-Commerce ausgeglichen werden, der um 65% zulegte. Dort sind die Margen allerdings deutlich geringer. Und man braucht zusätzliche Marketing- und Versandkosten, sodass die Umsatzsubstitution des stationären Geschäfts durch E-Commerce bei Weitem nicht eins zu eins auf das Ergebnis durchschlagen. Zwar werden wir als großes Unternehmen Überbrückungshilfe III plus in Anspruch nehmen können. Doch den Schaden von rund 65 Mio. Euro aus den beiden Corona-Jahren können wir dadurch nicht kompensieren.
Innenansicht der Thalia-Filiale im Bonner Shopping-Center Metropol.
Zu den größten Herausforderungen des Jahres 2020 gehörten zweifelsohne die Corona-Schutzmaßnahmen und die Kontaktnachverfolgung in den Läden. Wie lautet die Bilanz?
Es war eine ungeheure Kraftanstrengung, auf die wir maximal flexibel reagiert haben. Statt einer Bilanz plädiere ich an die verantwortlichen Politiker:innen: Wir im Handel wollen künftig bei der Entwicklung von neuen Maßnahmen gehört und bei Entscheidungen mit eingebunden werden. Nur so lassen sich realitätsnahe Lösungen finden, die der Buch- und Einzelhandel auch umsetzen kann.
Der Interviewer besitzt sowohl einen Tolino als auch ein Amazon Fire-Tablet. Seine E-Books liest der 51-Jährige nur auf dem Tolino. Gebrauchte Bücher kauft und verkauft der auf E-Commerce spezialisierte Online-Fachredakteur hauptsächlich im Internet, vor allem bei Amazon.
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