David Oldeen und Jacob Lydon entwickeln derzeit einen digitalen Größenberater, der Online-Modehändlern bei der Bekämpfung des Renditekillers Nummer eins helfen sollen: der traditionell hohen Retourenquote.
Das Münchner Start-up Sizekick, ein Spin-off des vor acht Monaten vom deutschen Markt verschwundenen digitalen Größenberaters Presize, hat das Textil-Prüfinstitut Hohenstein als strategischen Investor an Bord geholt. Die beiden Unternehmen wollen 2023 eine Size & Fit-Lösung auf den Markt bringen, die Modehersteller und -händler in ihre Online-Shops integrieren können.
Nach dem überraschenden Rückzug des Münchner Start-ups Presize aus dem B2B-Geschäft im März dieses Jahres war im deutschen Markt für digitale Größenberatung eine große Lücke entstanden. Schließlich verfügte das Technologie-Unternehmen, das durch die TV-Show "Höhle der Löwen" und den Einstieg von Carsten Maschmeyer als Investor bundesweit Bekanntheit erlangt hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit über die größten Erfahrungen auf dem Gebiet der Körpermaß-Ermittlung mithilfe einer Bodyscan-Smartphone-App. Mehr zum Thema
Nur drei Wochen nach dem Rückzug aus dem B2B-Geschäft
Digitale Größenberatung: Presize gehört jetzt zu Facebook
Der Münchner Virtual Dressing-Dienstleister Presize hat einen neuen Eigner. Dabei handelt es sich um das Social Network Facebook, das alle Anteile an dem Start-up übernimmt. Die Zukunft des Teams ist noch ungewiss.
Das Kunden-Portfolio umfasste über 50 Modehändler und Hersteller. Dazu gehörten unter anderem die Hemdenhersteller
Eterna und
Seidensticker, der Multichannel-Händler
Keller Sports, der Dirndl-Hersteller
Krüger, das Bestseller-Label Vero Moda, die Ahlers-Marke
Pierre Cardin, das Womenswear-Label
Rich & Royal und die Outdoor-Marke
Vaude. Im Zuge der
Übernahme von Presize durch Facebook Mitte April dieses Jahres wurde die Presize-Lösung vom Markt genommen.
Einen Teil des Platzes von Presize im Virtual Dressing-Markt könnte im nächsten Jahr das Münchner Start-up Sizekick übernehmen, das im Sommer dieses Jahres von den ehemaligen Presize-Managern Jake Lydon und David Oldeen gegründet wurde und seitdem eine sogenannte Size & Fit-Lösung entwickelt.
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Presize stellt B2B-Geschäft ein
Der Münchner Virtual Dressing-Anbieter Presize zieht sich aus dem B2B-Geschäft zurück. Die Investoren, darunter Carsten Maschmeyer, Chris Brenninkmeyer und Ex-Hermès-Chefin Christina Rosenberg bleiben aber allesamt an Bord.
Dazu haben die beiden Sizekick-Gründer nun das Textil-Prüfinstitut Hohenstein als strategischen Investor an Bord geholt, das weltweit 1000 Mitarbeiter beschäftigt und seit mehr als 75 Jahren Modeunternehmen Dienstleistungen anbietet, darunter Schulungen sowie die Prüfung, Zertifizierung, Forschung und Entwicklung textiler Produkte.
Das heißt: Das in Bönnigheim bei Heilbronn ansässige Unternehmen bringt nicht nur 1,3 Mio. Euro an Kapital mit, sondern auch viel Know-how. Schließlich ist Hohenstein nach eigenen Angaben "weltweit als die führende Anlaufstelle für die Textilbranche bei Fragestellungen rund um das Thema Passform".
Das Prüfinstitut Hohenstein hat sich auf das Thema Passform spezialisiert. Das Foto zeigt das Digital Lab des weltweit aktiven Unternehmens, das im schwäbischen Bönnigheim seinen Hauptsitz hat.
"Die Partnerschaft und das Investment von Hohenstein erlauben es uns, mit der besten Datenbasis am Markt und mit erfahrenen Entwicklern direkt zum Start führende KI und Software zu entwickeln, auf die der gesamte Fashion-Markt sehr gespannt sein kann", kündigt der Gründer und CEO Oldeen an, der bei Presize den Vertrieb geleitet hat.
Davor hat der studierte Sportökonom unter anderem für den Sportartikel-Konzern Amer Sports, den Funktionsstoffe-Hersteller Gore (Gore-Tex) und das Technologie-Unternehmen Savesize gearbeitet, das 3D-Scanner für die Vermessung von Füßen anbietet.
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TW-Analyse zum Thema virtuelles Anprobieren
Die Körperscanner kommen
Trotz der anhaltend hohen Retourenraten gibt es immer noch kein massentaugliches Tool, mit denen Online-Modekunden ihre Fundstücke virtuell anprobieren können. Die TextilWirtschaft ist den Gründen für diese Entwicklung nachgegangen und hat die aussichtsreichsten Anwendungen genauer unter die Lupe genommen. Was sind die größten Vorteile von digitalen Größenberatern und Anprobierhilfen, die möglicherweise auch die digitale Order revolutionieren?
"Unsere künstliche Intelligenz lernt bereits heute dank Hohenstein mit einer weltweit größten und hochwertigsten Datenbanken von 3D-Körperscans. Das ist ein extrem großer Vorteil für unsere KI", hebt Sizekick-CTO Jake Lydon hervor. Der 41-jährige Informatiker und Software-Ingenieur war bei Presize für den Bereich Deep Learning und Computer Vision verantwortlich gewesen.
Davor war er an der TU München im Visual Computing & Artificial Intelligence Lab tätig gewesen. Am Anfang seiner Karriere hat der US-Amerikaner zwölf Jahre lang als Bauingenieur gearbeitet. Anschließend studierte er Informatik mit dem Schwerpunkt Deep Learning und Computer Vision.
Das ist bei Sizekick geplant: Ähnlich wie Presize will das junge Start-up auf den Produktseiten der Partner-Shops Buttons platzieren, welche die Nutzer anklicken können, wenn sie erfahren wollen, ob ihnen das ausgewählte Kleidungsstück passt. Dazu müssen sie Daten wie Körpergröße und Alter mitteilen und Fotos oder Videos hochladen. Die auf Künstlicher Intelligenz basierende Software ermittelt dann, in welcher Kleidergröße der Kunde das Produkt bestellen sollte.
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Das plant Zalando im Virtual Dressing
Noch in diesem Jahr ist es so weit: Dann startet Zalando die erste Version seiner Virtual Dressing-Lösung. Die zuständige Vizepräsidentin Stacia Carr will damit "die Verbindung zwischen dem Modeschöpfer und dem Verbraucher wieder herstellen".
Nähere Details wird Sizekick erst im Vorfeld des Soft-Launches kommunizieren, erklärt Oldeen. Seinen Angaben zufolge entwickelt das fünfköpfige Team, das bis Ende 2023 auf etwa 20 Mitarbeiter ausgebaut werden soll, die Größenberatungslösung komplett neu. In der Folge bestehe nicht die Gefahr, dass Sizekick Patente von Presize verletzt.
Ein konkretes Startdatum steht noch nicht fest, nur das Jahr 2023. Davor wird es einen sogenannte Soft-Launch geben, nach dem laut Oldeen eine "ausgewählte und limitierte Anzahl an Pilot-Partner-Shops" die Lösung auf Herz und Nieren testen wird. Welche Online-Händler an diesem Testlauf teilnehmen, will der 38-Jährige in den nächsten Wochen und Monaten entscheiden.
"Sehr positive Resonanz im Markt"
Oldeen hat nach eigenen Angaben "bereits eine sehr positive Resonanz und ein großes Interesse von Fashion- und Sportbrands sowie Multibrand-Online-Händlern erhalten". Davor soll die App intern kontinuierlich auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft werden.
"Marken und Händler werden mit Sizekick die Möglichkeit haben, ihren Online-Kunden eine fundierte Größenentscheidung für Bekleidung anzubieten", kündigt Professor Stefan Mecheels, Inhaber und CEO von Hohenstein. "Das ist ein wichtiger Schritt für die gesamte Fashion-Branche, um den Online-Handel mit weniger größenbedingten Retouren nachhaltiger zu machen."
Bislang hatten Lydon und Oldeen je 50% der Sizekick-Anteile gehalten. Künftig kontrolliert Hohenstein 24% des Unternehmens, den Rest je zur Hälfte die beiden Gründungsgeschäftsführer.
Hohenstein-Inhaber und CEO Professor Stefan Mecheels: "Marken und Händler werden mit Sizekick die Möglichkeit haben, ihren Online-Kunden eine fundierte Größenentscheidung für Bekleidung anzubieten."
So lief die digitale Größenberatung bei Presize: Nachdem der User den Button "Finde meine Größe" angeklickt hatte, musste er Basisinformationen wie Gewicht und Größe angeben. Danach hatte er die Wahl, entweder weitere Fragen zum eigenen Körper zu beantworten oder ein kurzes Smartphone-Video aufzuzeichnen, in dem er sich einmal um sich selbst drehte.
Im Anschluss an das Vermessen wurde eine Größenempfehlung für den User berechnet. Die Daten wurden dann anonymisiert und der Kunde erhielt eine Size-ID. Diese konnte genutzt werden, um in den Online-Shops, die Presize eingebaut hatten, eine Größenempfehlung zu erhalten. Es ist gut möglich, dass das Procedere bei der Sizekick-Lösung ähnlich sein wird.
Das sind die Mitbewerber
Größter Mitbewerber wird das Berliner Start-up
Fit Analytics sein, das
Snapchat im März vergangenen Jahres
gekauft hat. Dieses hilft – ähnlich wie Presize – Modekunden bei der Auswahl des passenden Kleidungsstücks. Allerdings nicht mithilfe einer App, sondern eines Algorthmus'. Dieser ermittelt nach der Eingabe von Parametern wie Alter, Geschlecht, Markenpräferenzen, Gewicht sowie Körpergröße und -form, welche Kleidergröße der User beim online gefundenen Modeprodukt anklicken sollte.
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Sizeez will das Online-Maßband der Modebranche werden
Die anhaltend hohe Retourenrate im Online-Modehandel ist sowohl für die Verkäufer als auch die Umwelt eine Katastrophe. Das will das Siegener Start-up Sizeez beheben. Die TextilWirtschaft hat die Virtual Dressing-Anwendung getestet.
Weitere Anbieter von Virtual Dressing- bzw. digitale Größenberatungs-Lösungen in Deutschland sind unter anderem Snapchat, das
Konstanzer Start-up Beawear, der Berliner Schuhfilialist
Shoepassion, der Dubliner Technologie-Anbieter Tryfit, der Siegener
Software-Hersteller Sizeez, der österreichische Technologie-Dienstleister
Reactive Reality und die H&M-Tochter H&M Beyond, die 2021 einen Bodyscanner
in zwei Berliner und einem Hamburger Store getestet hat.
Richtig durchgesetzt hat sich aber noch kein Anbieter. Und das, obwohl die Not angesichts der hohen Retourenquoten von durchschnittlich 50% im deutschen Online-Modehandel eigentlich hoch ist. Als Hauptgrund gilt der kostenlose Versand: "Solange ich alles kostenlos zurückschicken kann, warum sollte ich mir dann Gedanken machen? Ich bestelle mir das einfach in zwei Größen. Und schicke eine zurück. Kostet mich ja nichts", sagte die E-Fashion-Expertin Nina Pütz im Frühjahr in einem Interview mit der TextilWirtschaft.
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Die E-Fashion-Expertin Nina Pütz über Virtual Dressing in Deutschland
"Die kostenlose Retoure ist das größte Problem"
Die ausgewiesene E-Fashion-Expertin Nina Pütz spricht im TW-Interview über die Gründe für den ausbleibenden Durchbruch von Lösungen für das virtuelle Anprobieren von Bekleidung.
Der Berliner E-Fashion-Konzern Zalando wird noch in diesem Jahr eine
Körpervermessungsfunktion in seine App integrieren. Im nächsten Schritt wollen die Berliner eine Avatar-Lösung auf den Markt bringen. Diese soll den Kunden ermöglichen, auf Basis der Messdaten digitale Zwillinge zu erstellen, denen ausgewählte Kleidungsstücke angezogen werden können. Stellvertretend für den Verbraucher.
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Interview mit Shoepassion-Geschäftsführer Daniel Pokorzynski
"Die Retourenquote hat sich um bis zu 20% verbessert"
Der Berliner Schuhfilialist Shoepassion bietet seinen Kunden seit Mitte 2020 an, ihre Füße professionell scannen zu lassen. Geschäftsführer Daniel Pokorzynski zieht im TextilWirtschaft-Interview eine Bilanz.
Was macht Facebook mit Presize?
Indes ist weiter unklar, was Facebook mit der Technologie von Presize vorhat. Ein Sprecher der Facebook-Mutter Meta teilte auf Anfrage der TextilWirtschaft lediglich mit, dass "die Partnerschaft mit Presize "den Menschen und Unternehmen bessere Werkzeuge an die Hand geben, die das Einkaufserlebnis auf unseren Commerce-Produkten verbessern werden".
Der Mitgründer und Chief Product Officer von Presize, Awais Shafique, hat vor drei Monaten auf seiner Linkedin-Seite seine Follower darüber informiert, dass er fortan zusammen mit den anderen Presize-Gründern Tomislav Tomow und Leon Szeli als Produktmanager im Fashion-Team von Meta arbeite.
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Hugo Boss: Das kann das neue Virtual Dressing-Tool − und das nicht
Hugo Boss hat eine virtuelle Anprobe in seinen Online-Shop integriert. Diese ermöglicht die Erstellung eines Avatars, dem man ausgewählte Kleidungsstücke anziehen kann. Die TW hat es getestet − und zeigt, wo die Metzinger im Vergleich zum Wettbewerb stehen.
Dieses sei dafür verantwortlich, Modeunternehmen mit Facebook- und Instagram-Nutzern zu verbinden. Unter anderem über Online-Shops auf den beiden Social Networks. "Wir werden weiterhin Menschen dabei helfen, beim Online-Kauf von Mode die richtige Größe zu finden, was letztlich auch kleinen Unternehmen und unserem Planeten zugutekommt", schreibt Shafique.
Branchenbeobachtern zufolge ist ein Einsatz der Presize-Technik in der virtuellen Welt von Meta denkbar, der Metaverse-Plattform Horizon. Zum Beispiel in der Form, dass die Nutzer ihre Avatare nach ihren eigenen Körpermaßen gestalten, um Kleidungsstücke virtuell anzuprobieren. Wenn das Teil gefällt, kann ein physisches Pendant des Outfits nach Hause bestellt werden.
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