Weitermachen nach der Welle

Am 15. Juli 2021 bot sich den Schwestern Meltem Turan Aksu und Mehtap Turan vor ihrem Laden in Ahrweiler dieses Bild. Ein knappes Jahr später stehen sie vor dem entkernten Ladengeschäft. In den kommenden Wochen soll es dort mit dem Innenausbau losgehen.
TW-Collage: Mi-Parti/Freutel

Bei der Flutkatastrophe vor einem Jahr verloren Meltem Turan Aksu und Mehtap Turan ihre zwei Läden in Ahrweiler. Seitdem kämpfen die Schwestern für den Fortbestand ihres Unternehmens und den Wiederaufbau am Standort. Ein Besuch.

"Dort ist die Wand vom Foto", sagt Meltem Turan Aksu und zeigt durch die Schaufensterscheibe ins Innere ihres Ladens am Marktplatz in Ahrweiler. "Wir geben nicht auf!", hatten sie und ihre Schwester Mehtap Turan damals auf die weiße Wand geschrieben und sich für ein Foto daneben gestellt. Beide in Gummistiefeln und schlammverspritzter Kleidung, mitten im braunen, noch feucht glänzenden Schlick stehend.

Klare Botschaft: "Wir geben nicht auf!". Dieses Bild posteten die Schwestern wenige Tage nach der Flut auf Instagram.
Klare Botschaft: "Wir geben nicht auf!". Dieses Bild posteten die Schwestern wenige Tage nach der Flut auf Instagram.
Mi-Parti

Ein Jahr nach der Flut ist davon nichts mehr zu sehen. Der weiße Putz wurde längst abgeschlagen. Wie in so vielen Häusern in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt wurde das Erdgeschoss des Gebäudes in den Rohbau zurückversetzt. "Eine Wand, die die zwei Verkaufsräume voneinander trennt, wollten wir schon länger rausnehmen lassen. Es hieß aber immer, dass das eine tragende Wand sei. Nach der Flut war sie einfach verschwunden", sagt Mehtap Turan. Wie die zwei Läden, die sich die Schwestern fünf Jahre lang aufgebaut hatten.

Seit knapp 20 Jahren sind sie im Modebusiness tätig. Mehtap Turan, die in Trier Modedesign studiert hat, mit ihrer Kollektion Studio Turan auch als Designerin. Nachdem die Schwestern 2016 ihre zwei Modegeschäfte in Bad Godesberg durch ein Hochwasser verloren hatten, fingen sie in Ahrweiler neu an. Am Marktplatz eröffneten sie im alten Rathaus, einem hellrot gestrichenen Rokokobau die Modemanufaktur Turan. Durch eines der großen Schaufenster konnten Passanten beim Zuschneiden und Nähen der Modelle zusehen. Nur wenige Häuser weiter, die Niederhutstraße hinunter, führten sie mit Mi-parti ihr zweites Geschäft mit Mode und Accessoires für Frauen. Bis zum 15. Juli 2021. "Eine Nachbarin hat uns am Morgen ein Video geschickt, darauf sieht man, wie das Wasser an unserem Laden vorbeirauscht, und die Schaufenster fast nicht mehr zu sehen sind", erinnert sich Mehtap Turan an den Tag nach der Flut. "Ich habe erst gar nicht kapiert, dass das unser Laden ist." Sie selbst wohnt im knapp 30km entfernten Andernach, ihre Schwester auf einer Anhöhe in Ahrweiler. Privat sind sie so von der Flut verschont geblieben. Umso surrealer sei der Anblick gewesen, als sie zur Manufaktur kamen. Vor dem Laden türmte sich angeschwemmter Schutt und Müll, ganz oben drauf ein Auto.
Surrealer Anblick: Am Morgen danach bot sich den Schwestern vor ihrem Laden ein Bild des Chaos und der Zerstörung.
Surrealer Anblick: Am Morgen danach bot sich den Schwestern vor ihrem Laden ein Bild des Chaos und der Zerstörung.
Mi-Parti

Diese Wucht ist beim Anblick der Ahr an diesem Juni-Nachmittag kaum vorstellbar. Knapp 100 Meter vom Ahrtor entfernt fließt der Fluss gemächlich durch sein Bett. Dass es hier vor einem Jahr ganz anders ausgesehen haben muss, zeigt die vom Technischen Hilfswerk gezimmerte Brückenkonstruktion, aber vor allem die Reste der alten Brücke. Die Auffahrt gibt es noch, doch der gemauerte Brückenkopf ist zu großen Teilen verschwunden. Wie aus der Böschung herausgerissen. Starker und langanhaltender Regen an den Tagen zuvor hatte viele Bäche und kleine Flüsse so stark anschwellen lassen, dass die Ahr über die Ufer trat. Die 7500 Einwohner-Gemeinde Ahrweiler wurde besonders hart getroffen.

"Das Wasser war hier bis zu 1,80 Meter hoch", sagt Mehtap Turan, als wir auf dem Weg zu ihren Läden die Ahrhutstraße entlang gehen. Überall stehen Kastenwagen. Baumaterial und Möbel werden ausgeladen. Hämmern, Sägen und Bohren ist zu hören. An vielen der eng aneinander stehenden Häuser zeigen sich die Renovierungsarbeiten schon deutlich – wenn auch in durchaus unterschiedlichen Stadien. Da gibt es das komplett renovierte Café neben der Baustelle im Rohbau, aber auch den Laden, der mit den schlammbespritzten Schaufensterscheiben so aussieht als sei die Flut erst vor einigen Tagen gewesen. Mi-parti, das zweite Geschäfte der Schwestern ist eines davon. Die Schaufenster sind mit Folie verhängt. Die Tür mit einer Spanplatte verkleidet. Im Store läuft noch immer ein Trocknungsgerät, wann es hier weiter gehen kann, ist offen. "Viele Hausbesitzer waren nicht ausreichend versichert, außerdem ist es schwierig, Handwerker zu finden", sagt Mehtap Turan.

Knapp zwei Meter hoch stand das Wasser in den Häusern in der Innenstadt. Die Mischung aus Heizöl, Schlick, Abwasser zerstörte alles.
Knapp zwei Meter hoch stand das Wasser in den Häusern in der Innenstadt. Die Mischung aus Heizöl, Schlick, Abwasser zerstörte alles.
Mi-Parti

Dass an eine schnelle Wiedereröffnung nicht zu denken war, wurde den Schwestern schon wenige Tage nach der Katastrophe klar. Dafür waren die Schäden an den Gebäuden zu groß. Und das Wasser hatte von den Läden nichts übriggelassen. "Als die Flut kam, war der Großteil der Herbstware schon geliefert", erinnert sich Meltem. Allein im Mi-Parti entstand so ein Schaden in sechsstelliger Höhe. Eine ausreichende Warnung vor der Flut habe es nicht gegeben. "Das konnten wir uns alle nicht vorstellen", sagt Meltem. "Unsere Vermieterin, die über dem Mi-Parti wohnt, hat unseren Saugroboter ein paar Stufen nach oben gestellt hat, damit er falls etwas Wasser in den Laden läuft, nicht kaputt geht." Das Wasser stand jedoch knapp zwei Meter hoch im Laden. "In den Tagen nach der Flut haben wir nur funktioniert", erinnert sich Mehtap.

Dabei ging es erst einmal darum, alltägliche Dinge zu bewältigen. In Ahrweiler gab es keinen Strom mehr, kein frisches Leitungswasser, Abwasserrohre waren zerstört. "Unseren Freunden aus Andernach, die zum Helfen gekommen sind, haben wir gesagt, bringt euch Wasser mit, zum Trinken, aber auch um überhaupt mal die Hände waschen zu können", sagt Mehtap Turan. Diese Erfahrung, dass eigentlich Selbstverständliches auf einmal nicht mehr möglich ist, sitzt tief.

Noch heute sind sie schockiert, wie schleppend die staatliche Notfall-Hilfe anlief. "Viele Menschen kamen, um zu helfen, es gab aber keine Koordination seitens der Behörden. Helfer-Shuttles, zum Teil auch die Trinkwasserversorgung, wurden privat organisiert." Das Chaos sei unbeschreiblich gewesen. "Da der Schlamm sehr schnell trocknet und dann hart wie Beton wird, haben alle ihre Läden leer geräumt und alles auf die Straße geworfen. Zum Teil kam man da auch zu Fuß nicht mehr durch", so Mehtap Turan. So konnten aber auch Rettungswagen und Einsatzfahrzeuge kaum durch die Stadt fahren.

Wie gefährlich die Situation war und ist, zeigen die Schwestern vor ihrem Laden am Marktplatz. Hier wurde ein Loch, das fast von der einen zur anderen Seite der Fußgängerzone reicht, mit Beton zugeschüttet. "Die Flut hat auch im Untergrund viel mit sich gerissen. Dadurch, dass alle dann das Wasser aus ihren Kellern gepumpt haben, hat an vielen Stellen der Untergrund nachgegeben. Die Pfütze vor unserem Laden wurde immer tiefer und instabiler. Die Straße ist immer noch gefährdet und Veränderungen werden genau beobachtet", sagt Meltem Turan Aksu.

Hier soll es bald weitergehen: Aktuell läuft die Planung für die neue Gestaltung ihres alten Stores am Marktplatz. Meltem Turan Aksu (li.) und Mehtap Turan Ende Juni in Ahrweiler.
Hier soll es bald weitergehen: Aktuell läuft die Planung für die neue Gestaltung ihres alten Stores am Marktplatz. Meltem Turan Aksu (li.) und Mehtap Turan Ende Juni in Ahrweiler.
Freutel
 

Die Flutkatastrophe, die insgesamt mehr als 150 Menschen das Leben kostete und deren wirtschaftlichen Schaden der Rückversicherer Munich Re alleine in Deutschland auf 33 Mrd. Euro bezifferte, hat Ahrweiler und die Menschen vor Ort verändert. Bei starkem Regen kommen bei vielen Erinnerungen und Ängste hoch. Doch es gibt auch positive Folgen der Flut. "Die Gemeinschaft hier vor Ort hat sich intensiviert und Vieles wird neu gedacht", sagt Mehtap Turan. Das gilt auch für den Einzelhandel. Nach dem ersten Schockmoment mussten die Gewerbetreibenden in der Innenstadt für sich entscheiden: Weitermachen oder nicht? "Da gab es die, die sehr schnell aktiv geworden sind." So habe etwa ein Optiker vor seinem Privathaus in der Nähe der Innenstadt übergangsweise einen Verkaufs-Container aufgestellt.

Auch die Schwestern entschieden weiterzumachen – auch mit dem Verkauf, bei dem sie von fünf Mitarbeitern unterstützt werden. "Auch unsere Mitarbeiter haben gesagt, lasst uns bitte – wie auch immer – wieder schnell öffnen, wir wollen nur nicht wieder wie in Corona-Zeiten in Kurzarbeit." Gemeinsam mit anderen Gewerbetreibenden aus Ahrweiler und dem Citymanagement entwickelten die Schwestern die Idee einer Pop-up-Mall. Auf einem Grünstreifen, direkt an der Stadtmauer gelegen, wurde so im Herbst eine Zeltstadt aufgebaut.

Im November feierte die Mall mit Nagelstudio, Reisebüro, Spielwarengeschäft, Antiquariat, Café und Modegeschäften Eröffnung. Bei der Einrichtung des Stores erhielten die Schwestern unkomplizierte Unterstützung. "Juvia, Rich&Royal und Yaya haben auf unsere Anfrage sofort reagiert und uns Shop-in-Shops zur Verfügung gestellt. Das war eine Riesenhilfe", sagt Meltem Turan Aksu. Die gab es auch bei der Warenbeschaffung. "Mitte Juli haben wir die Herbstware komplett verloren. Den Winter mussten wir komplett stornieren, die Firmen haben die Ware erst mal zurückgehalten, und so konnten wir sie im November abrufen." Der Bedarf war riesig. "Viele Kunden haben im Sommer ihre Wintergarderobe verloren, weil sie im Keller eingelagert war. Da war die Nachfrage ab Mitte November sehr groß", sagt Turan Aksu. Auch seien viele Kunden aus Solidarität gekommen. "November und Dezember waren so stark wie noch nie in den 20 Jahren, seitdem wir ein Modegeschäft führen." Insgesamt sei die Umsatzsituation sehr zufriedenstellend gewesen.

Im August endet das Kapitel an der Stadtmauer. Die Mall wird geschlossen. In den letzten Wochen sind immer mehr Mieter aus- und in ihre renovierten Geschäfte im Ort zurückgezogen. Auch die Schwestern planen spätestens am 10. September, wenn es erstmals wieder ein Weinfest in Ahrweiler geben soll, zumindest mit einem Store im Ort vertreten zu sein. Neben ihren bisherigen zwei Geschäften werden sie einen neuen, dritten Laden dazu nehmen. "Die alteingesessene Modehändlerin dort hat nach der Flut entschieden aufzuhören. Da wir bei dem einen Store noch gar nicht absehen können, wann es weitergeht, eröffnen wir jetzt dort", sagt Mehtap Turan.

Die Planung der Einrichtung übernimmt ihre Schwester, die ausgebildete Bauzeichnerin und beim Thema Ladengestaltung in ihrem Element ist. "In unserer früheren Manufaktur wollen wir jetzt mit einem Concept Store starten", sagt Meltem Turan Aksu. Die Kombination in der Mall, als sie sich zeitweise die Fläche mit einem Käse-Spezialist und einer Floristin teilten, habe gezeigt, wie gut das funktioniere. "Durch die Flut wurden die Karten neu gemischt", sagt sie. Das gilt auch für die Geschäfte im Ort. Den Standort zu stärken und neuen Konzepten eine Chance zu geben, ist für die Schwestern ein wichtiges Ziel. In Andernach gehören sie mit zu den Initiatoren der einmal monatlich stattfindenden langen Shoppingnacht "First Friday", die die Frequenz in der dortigen Innenstadt deutlich gestärkt hat.

Zwischenstation: Im November 2021 eröffnete auf einem Grünstreifen an der Stadtmauer die Pop-up-Mall in Ahrweiler. Dort konnten auch die Schwestern mit ihrem Sortiment weitermachen. Im August wird die Mall abgebaut, immer mehr Mieter sind mittlerweile wieder in ihre Läden in der Innenstadt zurückgekehrt.
Zwischenstation: Im November 2021 eröffnete auf einem Grünstreifen an der Stadtmauer die Pop-up-Mall in Ahrweiler. Dort konnten auch die Schwestern mit ihrem Sortiment weitermachen. Im August wird die Mall abgebaut, immer mehr Mieter sind mittlerweile wieder in ihre Läden in der Innenstadt zurückgekehrt.
Freutel

Wer mit ihnen durch Ahrweiler läuft, bekommt immer wieder mit, wie sie mit Handwerkern, Händlern und Gastronomen ins Gespräch kommen. "Es gibt hier noch viele Flächen, bei denen nicht klar ist, was dort passieren wird", sagt Meltem Turan Aksu. "Das heißt, es gibt auch viele Chancen für neue Konzepte." Regelmäßig schaut sie, was sich auf den Flächen tut und versucht, Interessierte für Ahrweiler zu gewinnen und ihnen ihre Unterstützung anzubieten. "Gerade bin ich mit einer jungen Frau im Gespräch, die eventuell einen Laden mit junger Mode eröffnen möchte. So etwas fehlt hier noch."

Die kommenden Wochen – mit Schließung der Mall und Umbau im Ort – werden ein weiterer Kraftakt für die Schwestern. Das vergangene Jahr sei extrem anstrengend gewesen, habe aber auch für Klarheit gesorgt. "Schon durch Corona habe ich mich mehr auf meine eigene Kollektion und meinen eigenen Stil fokussiert und gemerkt: Je konsequenter ich das mache, desto kreativer werde ich", sagt Mehtap Turan. Nur wenige Wochen nach der Flut eröffneten die Schwestern – wie schon vor der Katastrophe geplant – in Andernach das Studio Turan mit 55m², Produktionsort und Laden für die eigene Kollektion. Ein Lichtblick. "Wir haben auf unser Bauchgefühl gehört und an den Planungen festgehalten – trotz Flut und allem. Die Flut hat viele Überlegungen auf einen Schlag festgezurrt."

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