Future Retail

"Es geht bei Retail Technology nicht um Magic Mirrors"

Liganova
Mathias Ullrich ist seit Januar Geschäftsführer von Liganova in Stuttgart.
Mathias Ullrich ist seit Januar Geschäftsführer von Liganova in Stuttgart.

Viele haben den Sinn von Retail Technology nicht verstanden, sagt Mathias Ullrich, der seit Januar Geschäftsführer von Liganova in Stuttgart ist, eine der führenden Agenturen für Markenkommunikation. Der Digital-Experte blickt mit uns auf das große Wort New Retail. Auf Daten, (keine) Vernetzung und neue Erlösquellen.

TextilWirtschaft: Haben Sie heute schon Daten im Modehandel hinterlassen?
Mathias Ullrich: Klar, jeden Tag. Heute war ich in den Apps von Zalando und Zara. Ich hinterlasse unentwegt irgendwelche Informationen über mich im Netz. Aber das stört mich wenig. Im Gegenteil: Wenn mir dafür spannende Produkte kuratiert werden, hinterlasse ich gerne Spuren.

Wie viele Daten sammelt den ein Händler jeden Tag auf der Fläche?
Tendenziell noch immer viel zu wenig. Zu oft wird sich zu stark an Verkaufszahlen orientiert. Das, was spannendere und tiefere Einblicke geben würde, wären Verhaltensdaten: Was wurde angeschaut und was wieder weggelegt?

Ist das nicht zu pauschalisiert? Sicher gibt es Retailer, die Big Data zielführend nutzen.
Natürlich. Erste Schritte sind gemacht. Mithilfe von Kundenkarten sammeln Händler bereits wertvolle Informationen, können clustern, ihre Kunden gezielter ansprechen, ihre Sortimente darauf ausrichten. Die Idee von New Retail ist das aber noch nicht.

Der Begriff wurde in China geprägt, und steht dafür, dass die Grenzen zwischen stationärem und digitalem Geschäft zunehmend verschmelzen. Was ist der Schlüssel?
Durch die In-Store Nutzung des Smartphones als Schnittstelle zum Kunden für alle Operations im Store wird der bereits existierende digitale Cookie mit dem physischen Cookie verschmolzen. Das ist New Retail. Der Schlüssel zum Erfolg ist ein neues Rollenverständnis der Kanäle. Ein sich ergänzendes Zusammenspiel zwischen dem physischen und digitalen Raum. Dadurch werden Mittel und Platz frei, Flächen ganz anders zu denken und den Nutzen für den User konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Durch die Verschmelzung der Cookies können Kunden, die nur im Store geschnuppert haben, durch Retargeting zum Kauf animiert werden.

Wie passen Terminals auf der Fläche zum Smartphone-Trend?
Terminals waren als Idee nicht schlecht, aber ihr Nutzen beschränkt sich stark auf Effizienz. Das heißt: Man braucht weniger Beratungspersonal, weil der Kunde sich selbst informiert. Der größere Nutzen einer digitalen Schnittstelle liegt aber im Know Your Customer-Prinzip, also den Kunden zu erkennen und später wieder ansprechen zu können. Das bieten die Terminals nicht wirklich ab, außer jemand hinterlässt seine E-Mail Adresse. Was die wenigsten tun.



Setzen sich Instore-Apps durch?
Das neue SEO heißt ASO (App Store Optimation, Anm. d. Redaktion). Es ist klar, wohin der Trend geht. Apps lassen viel mehr Intimität, viel mehr personalisierte Kundenwerbung zu. Die Anzahl der Apps explodiert, die Akzeptanz wird größer, schnelle Downloadgeschwindigkeiten helfen.

Und dann gibt’s kein Wlan im Laden.
Das ist dann hoffentlich mit 5G Geschichte. Wir werden Apps in wenigen Sekunden herunterladen können. Egal wo.

Das eine ist die Technik. Welche Inhalte animieren Kunden, sich Apps runterzuladen?
Bezahlung über die App. Loyalitätspunkte, obwohl ich das etwas überbewertet empfinde. Spannender wäre Exklusivität: Die App bietet Angebote, die es nur bei App-Nutzung gibt. Das können spezielle Produkte, aber auch Events oder Kooperationen sein, die auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten sind. App-nutzende Kunden, die sich über Produkte im Laden informieren, sollten künftig nicht nur auf Alternativen hingewiesen werden, sondern diese direkt finden, indem sie virtuell durch den Store geleitet werden.

Mit Empfehlungsmarketing bewegen Akteure sich auf einem schmalen Grat. Wann wird es den Kunden unheimlich?
Es gibt eine gewisse Müdigkeit der Kunden, sich bei dieser Reizüberflutung das Richtige auszusuchen. Kuration, also das Vorselektieren entsprechender Angebote, ist ein enormer Trend. Kein Kunde hat die Zeit, Tausende Webseiten nach dem passenden Produkt zu durchsuchen. Anstatt heimlich im Hintergrund mit einer KI die bestmöglichen Empfehlungen abzuleiten, könnte ein Algorithmus als Kurationsservice verkauft werden. Ich bin mir sicher, dass Kunden diesen auch abonnieren würden.

Die Selektion aus dem Grundrauschen übernehmen im Fashion Business zuweilen Influencer. Wie können Retailer davon profitieren?
Mach dir die digitalen Trends zunutze, bekämpfe sie nicht! Es kann ganz einfach sein: Influencer einladen, Livestream von der Fläche, Verlinkung der Artikel. Im Vergleich zu anderen Branchen ist Fashion weit vorne beim Social Commerce. Davon können alle profitieren.



Mit all dem bewegen wir uns immer noch im klassischen Commerce – mit ein bisschen virtuellem Convenience. Wo ist die gewinnbringende Idee?
Da muss man einen, vielleicht zwei Schritte weitergehen. Man kann den virtuellen Raum, den Kunden in ihrer App betreten, als Werbefläche anbieten. Das hat ja den E-Commerce erst profitabel gemacht. Anbieter werben, wo die Suche beginnt – nämlich zunehmend bei den Retailern selbst. Warum sind Amazon, Zalando & Co Plattformen geworden? Damit sie sich von ihrem Handelsgeschäft emanzipieren und mit Retail Media Gewinne einfahren können. Warum nicht davon eine Scheibe abschneiden? Es geht bei Retail Technology nicht um Terminals und Magic Mirrors. Es geht darum, durch Digitalisierung neue Wege der Monetarisierung zu finden, den Store profitabler zu machen. Hier liegt großes Potenzial brach.

Werbekunden werden sicher nicht auf die erzielte Marge des Händlers schauen. Welche Währung wird relevant?
Customer Connect. Der Wert eines Händlers wird an der Kundschaft und der Anzahl der Interaktionen mit derselbigen gemessen. So werden völlig neue Flächen entstehen. Sogar ganze Quartiere. Schauen Sie mal, was da in London mit Outernet entsteht. Das ist die Zukunft der städtischen Unterhaltung. Eine wahre Destination. Das gesamte Quartier ist gleichzeitig eine begehbare Werbefläche. Man hört, die Werbekunden stehen Schlange.



Retail as a Service ist einer der Versuche, den stationären Handel nicht nur ein bisschen an die digitale Welt anzupassen, sondern ihn ganz neu zu denken.
Aus der Sicht des Herstellers funktioniert der klassische Einzelhandel immer weniger. Man wirft seine Produkte in ein schwarzes Loch. Der Händler beansprucht zudem die Beziehung zum Endverbraucher für sich allein. Als Hersteller erhalte ich kaum Daten zum Kundenverhalten und Verkaufszahlen mit Verzögerung. Wie wäre es, wenn der Händler sich als Dienstleister für die Hersteller versteht? Marken können sich flexibel einmieten, zahlen dafür eine Provision, sammeln Daten und lernen, ihren Kunden besser zu verstehen.

Wenn wir weiter über neue Wege der Monetarisierung sprechen, könnten wir auf Gamification kommen.
Der Hang zum Spielen ist bei vielen Menschen ausgeprägter als gedacht. Schauen wir mal auf die eSports Plattform Zwift. Dort fahren täglich bis zu 50.000 Radsportler gegeneinander um die Wette. Das Equipment wird zum Wettbewerbsvorteil und man optimiert seinen Avatar mit besseren Rädern, Trikots und Helmen. Das hat nicht selten Einfluss auf das reale Kaufverhalten. Beste Werbefläche für Marken.

Die Idee ist über 20 Jahre alt. Warum hat Second Life nicht funktioniert?
Das war schlichtweg zu früh. Die Idee ist vom Grundsatz richtig. Vor allem mit Blick auf die nächste Generation.
TOP-THEMA Retail Technology und E-Commerce

Stores wachsen zu Spaces. Während E-Commerce überall hingeht, wo die Kunden sind. Der physische Raum wird Anziehungspunkt für Zielgruppen, der digitale Raum wird noch stärker in den Verkauf transformieren. Retail Technology meets E-Commerce - Top-Storys und Hintergründe dazu lesen Sie in dem Online Special unter TexilWirtschaft.de/retail-technology-e-commerce




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