
Trotz der anhaltend hohen Retourenraten gibt es immer noch kein massentaugliches Tool, mit denen Online-Modekunden ihre Fundstücke virtuell anprobieren können. Die TextilWirtschaft ist den Gründen für diese Entwicklung nachgegangen und hat die aussichtsreichsten Anwendungen genauer unter die Lupe genommen. Was sind die größten Vorteile von digitalen Größenberatern und Anprobierhilfen, die möglicherweise auch die digitale Order revolutionieren? Und welche Effekte lassen sich damit erzielen?
Virtual Dressing gehört zu den ewigen Talenten des Mode-Online-Handels. Seit mindestens zehn Jahren wird der Technik regelmäßig der große Durchbruch vorausgesagt, der dann in schöner Regelmäßigkeit dann doch nicht erfolgt. Und das, obwohl ständig neue Produkte auf den Markt kommen, mit denen Kunden virtuell ausprobieren können, ob ihnen das ausgewählte Kleidungsstück passt oder gefällt.
Und obwohl viele technisch Lösungen überzeugen können und viele Millionen Euro in die Entwicklung geflossen sind. Vergeblich. Als wirklich massentauglich hat sich bislang keine Anprobierhilfe oder datenbasierte Größenberatung herausgestellt. Eine Art Pay Pal fürs virtuelle Anprobieren mit Millionen von Nutzern und Tausenden von Händlern lässt weiterhin auf sich warten.
Die TextilWirtschaft hat sich auf die Suche nach Gründen für diese paradoxe Entwicklung gemacht und die aussichtsreichsten Anwendungen ausfindig gemacht und analysiert. Was haben sie bislang gebracht? Und wie kann man die verwöhnten Nutzer dazu bringen, die Lösungen auch im ausreichenden Maße zu nutzen?
Zum Beispiel ein stationärer Bodyscanner, dessen Ergebnisse nach dem Store-Besuch auch für die Produktsuche im Online-Shop genutzt werden können. Oder eine Körpervermessungs-App, deren zu Hause erhobenen Messdaten dabei helfen, das Stöbern im Store stark zu verkürzen.
"Die Leute wollen nicht lange in Innenräumen verweilen, sondern schnell rein und schnell wieder rausgehen. Aber sie wollen die Ware immer noch anfassen", erklärte die ausgewiesene E-Fashion-Expertin Nina Pütz im Interview mit der TextilWirtschaft. "Durch Virtual Dressing habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Ich habe das Problem mit der Haptik gelöst, und die Kunden müssen sich nicht umziehen."
Das gelte besonders für Modehändler, die auch nach dem Ende von 2G noch unter einer niedrigen Frequenz leiden. Diese müssten sich jetzt Gedanken machen, wie sie die Leute wieder in den Handel bekommen. "Erst recht, wenn ich mich als Einzelhändler differenzieren will, würde ich das Thema besetzen", sagt die ehemalige Modechefin von Ebay Deutschland.
Darüber hinaus bekämen die Händler dadurch die Chance, ihr Nachhaltigkeitsprofil zu schärfen. Schließlich wird, wenn die Technik so funktioniert wie erhofft, weniger Ware hin und her geschickt. Dadurch verbessert sich der CO2-Footprint des Händlers.
Das nötige Kundeninteresse ist offenbar vorhanden: Bei einer Umfrage des Modefilialisten Ernstings' family und der Münster School of Business gaben 37% der Befragten an, dass sie in Zukunft 3D-Bodyscans und Smart Mirrors beim Einkauf von Kleidung im stationären Geschäft nutzen wollen. Eine virtuelle Möglichkeit zur Kleideranprobe sowie die Individualisierung von Kleidungsstücken im stationären Handel finden bei 35% der Befragten Zuspruch. Eine App, die es möglich macht, den eigenen Körper zu scannen, würden 34% gerne nutzen.
"Viele Chefs sagen: Ich muss da nicht führend sein. Wenn das im Massenmarkt angekommen ist, beschäftige ich mich damit. Sollen sich doch große Unternehmen wie Adidas, Macy's und Zalando Gedanken machen!", berichtet Pütz.
In der Folge sind die Reserven, die für derartige Investitionen nötig sind, vielfach nicht vorhanden, erklärt Pütz, die nach Stationen bei P&C Düsseldorf, Ebay und Brands4friends beim White-Labe-Zahlungsanbieter Ratepay gelandet ist, zu dessen Kunden-Portfolio Online-Modehändler wie Otto.de, About You, Fashionette, Ulla Popken und Ebay gehören. Die 43-Jährige arbeitet bei Ratepay - wie bei Brands4friends - als CEO.
Viel realistischer ist dagegen, dass sich das sogenannte Metaversum so weit in der Online-Community verbreitet, dass nicht nur IT-Nerds und Hardcore-Gamer im Umgang mit Avataren geschult sind. Diese kommen nämlich häufig beim Virtual Dressing zum Einsatz.
Ungestützt hat nur jeder Sechste (17%) vom Metaversum gehört. 9% wissen dabei allerdings nicht genau, was sich hinter dem Begriff verbirgt. Nur 3% konnten gut erklären, was man darunter versteht.
Für den E-Commerce-Wissenschaftler Heinemann ist das ein Grund mehr, skeptisch zu sein: "Mit der Einführung von Vermessungstechniken zur Ermittlung der richtigen Kleidergröße, von virtuellen Umkleidekabinen und anderen technischen Vermessungsmethoden, geht nicht zwangsläufig eine Änderung der Nutzungsgewohnheiten einher."
Die Technik kam Anfang der Zehnerjahre in einigen Modehäusern zum Einsatz, und zwar in Form von großflächigen interaktiven Spiegeln, sogenannten Magic Mirrors. Anfangs wurde die POS-Technik noch bejubelt, am Ende blieb sie aber nur eine Randerscheinung im stationären Modehandel.
Kein Wunder. Wer hat schon Lust, sich durch das Menü eines Spiegel zu klicken, wenn das gewünschte Produkt nur wenige Meter entfernt im Regal liegt? Die Angst vor dem Speichern der Kundenfotos in der Datenbank des Händlers dürften dem Produkt den Rest gegeben haben.
Zu den Vorreitern des Augmented Reality-basierten Virtual Dressings gehören unter anderem der britische Online-Modehändler Asos, die Luxusmode-Plattform Farfetch, die Zara-Tochter Massimo Dutti und der Instant-Messenger Snapchat, der schon Kampagnen mit Modeunternehmen wie Gucci, The North Face, Dior und Prada gefahren hat. Hinzu kamen Uhrenmarken wie Piaget, Kosmetikmarken wie Essence und das Schweizer Öko-Mode-Label Nikin.
Die ausprobierten Artikel konnten bei Gefallen direkt im Online-Shop von Zalando bestellt werden. Dazu muss man allerdings sagen, dass es sich dabei um simple Overlays handelte.
Das heißt: Die User konnten nur ungefähr feststellen, ob ihnen die Jacke passt und ihnen die Farbe gefällt. Die Passform konnte auf diese Weise nicht gecheckt werden. Spöttische Beobachter sprechen daher in diesem Zusammenhang gerne von einem Virtual Dressing für Arme.
Die Luxusmode-Marke Christian Dior ermöglichte ihren Kunden, mithilfe der AR-Anwendung von Snap in sechs verschiedene Modelle des B27-Sneaker zu schlüpfen. Dadurch wurden laut Snap 2,3 Millionen Views erzeugt. Diese generierten Umsätze, welche die Ausgaben für die Werbeaktionen um fast das Vierfache überstiegen.
Die Schweizer Bekleidungsmarke Nikin berichtete nach einer Aktion mit Snap von einem um 30% höheren Return on Advertising Spend als bei anderen Kampagnen. Der Tausenderkontaktpreis (CPM), also die Kosten für 1000 Sichtkontakte, habe 28% unter dem üblichen Niveau gelegen.
Lacoste erreichte durch eine Snap-Kampagne über sechs Millionen Einzelbesucher im Alter von 18 bis 34 Jahren. Bei New Balance waren es sogar 7,3 Millionen Unique User. Davon suchen anschließend fast 250.000 Personen den Online-Shop der Sneaker-Marke auf. Aktuell live sind unter anderem folgende Kampagnen:
Ein weiteres Argument für den Einsatz von AR: Bei Produkten wie Hüten, Brillen und Uhren geht es nicht um die exakte Passform, so dass ein grobes Anprobieren völlig ausreicht.
Fit Analytics-Gründer und CEO Sebastian Schulze hält sich diesbezüglich aber noch bedeckt: "Zusammen werden Snapchats AR-Funktionen und die Fit Analytics Technologie das Online-Shopping-Erlebnis der Menschen nachhaltig verbessern."
Dazu habe das Unternehmen sein Forschungs- und Entwicklungsteam "massiv "aufgestockt. Dieses werde auch künftig "stark wachsen". Konkret geplant sei die Personalisierung des Größenberaters mit dem Namen Fit Finder. Dieser soll um Stilempfehlungen ergänzt werden, so dass die Kunden Produktempfehlungen erhalten, die auf einer Vielzahl von Kriterien beruhen, von der Größe bis hin zu Stilpräferenzen.
Darüber hinaus planen die Hauptstädter die Demokratisierung ihres Produkts. Das heißt: Es soll möglichst vielen kleinen Online-Handel zugänglich gemacht werden. Fit Analytics hat daher das Produkt Sizefox auf den Markt gebracht, das relativ einfach in Shops eingebaut werden kann, welche die Technik der E-Commerce-Software-Plattform Spotify nutzen. "Die Integration von Sizefox dauert circa 30 Minuten und schon hat man eine Top-Größenberaterlösung live im eigenen Shop", verspricht Schulze. Weitere Plattformen sollen schrittweise folgen.
Das könnte ein Game Changer im Markt werden. Denn je einfach das Produkt ist, desto mehr kleinere Händler setzen es ein. Und desto höher ist die Chance, dass das Tool massentauglich wird.
Der Fit Finder wird Unternehmensgaben zufolge monatlich von über 100 Millionen Menschen genutzt. "In der Spitze hat der Fit Finder mehr als 1 Mrd. Euro an monatlichen Umsatz für all unsere Partner generiert", berichtet Schulze. Die durchschnittliche Reduzierung der Retourenquote beziffert der Berliner auf 2 bis 4%. "In einigen Fällen sind die Auswirkungen aber erheblich höher." Beispiele seien Mammut (minus 20%) und Footlocker (minus 14%).
Durchaus beachtlich sind auch die Verbesserungen der Konversionsraten: Diese sei beim Online-Schuhhändler Sidestep mithilfe des Fit Finders um 14% gestiegen. Bei Runners Point habe der Wert bei 6% gelegen. Bei Footlocker waren es immerhin 3%.
Darüber hinaus habe True Fit mit einer großen Datenbank punkten können. Diese habe detaillierte Messdaten der Bekleidungsprodukte enthalten, die für die Ermittlung der passenden Kleidergröße wichtig sind. Schließlich fallen die Größen häufig von Marke zu Marke unterschiedlich aus, teilweise um den Kunden den fälschlichen Eindruck zu vermitteln, dass sie abgenommen hätte. Man spricht in diesem Zusammenhang gerne von einer "Schmeichelgröße".
Die dadurch erzielten Einnahmen bezifferte er auf eine sechsstellige Summe pro Monat. Zum gesamten Umsatz der vergangenen zwei Geschäftsjahre wollte sich der Presize-Geschäftsführer nicht äußern.
Doch seit dem überraschenden Rückzug des Start-ups aus dem B2B-Geschäft Ende März steht die Presize-Lösung den deutschen Online-Modehändlern nicht mehr zur Verfügung. Mitte April übernahm der Social Network-Konzern Meta (Facebook, Instagram, Whats App) den Dienstleister. Was die Kalifornier mit der Presize-Technik vorhaben, steht noch in den Sternen.
Da der US-Konzern derzeit alle Kräfte auf die Transformation zum Metaverse-Giganten bündelt, ist ein Einsatz der Presize-Technik in der virtuellen Welt von Meta denkbar. Zum Beispiel in der Form, dass die Nutzer ihre Avatare nach ihren eigenen Körpermaßen gestalten, um Kleidungsstücke virtuell anzuprobieren. Wenn das Teil gefällt, kann ein physisches Pendant des Outfits nach Hause bestellt werden.
Auf dieses Szenario wären über 50 Modehändler und -hersteller vorbereitet, welche die Presize-Technik genutzt haben. Dazu gehörten unter anderem die Hemdenhersteller Eterna und Seidensticker, der Multichannel-Händler Keller Sports, der Dirndl-Hersteller Krüger, das Bestseller-Label Vero Moda, die Ahlers-Marke Pierre Cardin, das Womenswear-Label Rich & Royal und die Outdoor-Marke Vaude.
Rich & Royal, Krüger und Vero Moda berichten in von Presize veröffentlichten Case Studies, dass sich ihre Umsätze durch den Einsatz der KI-gestützten Technik deutlich erhöht haben. Gleichzeitig sei die Retourenquote merklich gesunken (siehe Kasten).
"Wir waren überrascht, wie einfach die Einrichtung des Tools war", berichtete die E-Commerce-Chefin von Vero Moda, Metta Vanger Rask Borch, in einer weiteren Fallstudie. Zu den jüngsten Erfolgszahlen will sie keine Angaben machen. In Schweigen hüllten sich auch die Presize-Nutzer Eterna, Keller Sports, Rich & Royal und Krüger Dirndl.
Nach dem Ende einer sechsmonatigen Messphase stellte Presize fest, dass sich im Online-Shop des Dirndl-Herstellers Krüger der Nettoumsatz nach Retouren um 8,3% erhöht hatte. Die Retourenquote war um 3,3% gesunken.
Bei einem A/B-Test, den Presize beim Bestseller-Label Vero Moda durchgeführt hat, sahen 70% der User (Gruppe B) den digitalen Größenberater, die restlichen 30% (Gruppe A) nicht. Am Ende der sechsmonatigen Messphase kam Presize zu dem Ergebnis, dass die Konversionsrate in Gruppe B fast 2% höher ausfiel als in Gruppe A. Der Umsatz nach Retouren lag rund 7,5% über dem der Vergleichsgruppe. Die Retourenquote war 2,2% niedriger.
Ein ähnlicher A/B-Test beim Damenmode-Label Rich & Royal ergab, dass der Umsatz vor Retouren in Gruppe B rund 50% über dem der Vergleichsgruppe lag. Die Retourenquote fiel 3% niedriger aus.
In einem zweiten Schritt filtert dieser Digital Twin dann die passenden Größen der Partnershops für die Kunden heraus. So werden algorithmisch Artikel empfohlen, die auf der individuellen Körperform und nicht wie bisher nur auf der Größe basieren. Erster Anwender ist der Münchner Fair Fashion-Filialist Thokk Thokk, der Beawear in seinen Online-Shop integriert hat. Drei weitere Online-Händler werden derzeit an das System angebunden.
Darüber hinaus hat das Start-up Plug-ins für Shopping-Software-Plattformen wie Shopify, Shopwear, Magento, Oxid, Plentymarket und Woo Commerce programmiert. So können die Nutzer dieser Plattformen die Virtual Dressing-Lösung relativ einfach in ihre Shops einbauen. Die Gebühren reichen je nach Unternehmensgröße von rund 900 bis 2500 Euro im Monat.
Die App von Tryfit ist seit Juni vergangenen Jahres beim Gesundheitsschuh-Hersteller Joe Nimble im Einsatz. Um ihren Fuß zu vermessen, müssen die Nutzer diesen lediglich auf ein weißes Din-A4-Papier stellen und die App auf ihrem Smartphone öffnen. Anschließend unterstützt das Programm mithilfe von Führungslinien den Anwender dabei, die Kamera in der richtigen Einstellung über den Fuß zu bewegen und ihn dadurch zu scannen.