TW-Interview mit Zeitgeist-Gründer Michel Oldehaver

Der Ethos der Oma, der Service von Amazon


Zeitgeist
Zeitgeist-Team: Michel Oldehaver (oben links) mit seinen Mitstreitern
Zeitgeist-Team: Michel Oldehaver (oben links) mit seinen Mitstreitern

Covid-19 hat dem Modehandel stark zugesetzt. Michel Oldehaver und seine Mitstreiter ließen sich von der Krise nicht abhalten und gründeten mitten im Lockdown ihren Vintage-Shop Zeitgeist. Der Start-up-Unternehmer über die Lehren seiner Großmutter, ungeduldige Kunden, das Potenzial von Nischen-Marktplätzen wie Depop und Grailed sowie die schwierige Suche nach Wagniskapitalgebern, von denen viele mit Secondhand leider noch nichts anzufangen wissen.

Da er erst 27 Jahre alt ist, lässt sein vollgepackter Lebenslauf nur den Schluss zu, dass er vieles gleichzeitig getan haben muss. Michel Oldehaver arbeitete in der Stahlindustrie, studierte Medien und E-Commerce, eröffnete einen Laden für Luxusstreetwear und ist nun im Secondhand-Handel aktiv. Während die Welt im Frühjahr 2020 wegen Covid-19 stillstand, gründete er Zeitgeist.

Zeitgeist ist ein Laden für Vintage-Mode. In Hamburg an der Innenalster, im Web und auf Marktplätzen wie Asos, Depop und Grailed. Oldehaver und seine Mitstreiter sind angetreten, den Secondhand-Verkauf auf das Niveau des Neuwaren-Verkaufs zu heben. Er will das Ethos seiner Großmutter, die gebrauchte Kleidung trug, mit dem Leistungsversprechen von Amazon, schnell und zuverlässig zu liefern, und der Style-Inspiration, für die About You bekannt ist, kombinieren: "Der Kauf gebrauchter Kleidung soll ein Erlebnis werden."

TextilWirtschaft: Sie haben Zeitgeist mitten im Lockdown gegründet. War Covid-19 kein Hindernis bei der Selbständigkeit?

Michel Oldehaver: Corona war ein Glücksfall. Ich hatte mir gesagt: ‚Wenn ich das durchziehe, dann nur mit guten Leuten.‘ Der Lockdown durchkreuzte private und berufliche Projekte einiger meiner Bekannten. Die hatten dann die Zeit und Energie, das Projekt mit mir anzugehen. Während die Zeit für die meisten Menschen traumatisch war, haben wir sie dazu genutzt, Zeitgeist zu schaffen. Im Juli 2020 gingen wir mit unserem Webshop live, seit September 2020 verzeichnen wir guten Traffic. Im Juli 2021 eröffneten wir unseren Laden auf dem Ballindamm an der Hamburger Innenalster.

Was ist die Grundidee von Zeitgeist?
Die Idee ist, den Einkauf gebrauchter Kleidung ein Erlebnis werden zu lassen. Genauso, wie es About You oder Zalando mit Neuware gelingt.

Inspiration wird großgeschrieben: Shooting von Zeitgeist
Zeitgeist
Inspiration wird großgeschrieben: Shooting von Zeitgeist

War der Kauf von Secondhand-Ware bislang kein Erlebnis?
Ich hatte einen Laden für Luxusstreetwear. Was ich nicht aus erster Hand bekam, besorgte ich mir über den Zweitmarkt. Da stellte ich fest, dass die meiste Ware über Facebook-Posts angepriesen wurde. Das waren Gruppen wie The Basement in London. Das erinnerte an Craigslist. Da etwas zu finden, war echt schwierig, weil man nichts filtern konnte. Einer der ersten Vintage-Online-Shops, der mir gefiel, war True Vintage aus Großbritannien. Wir hatten echt Ehrfurcht vor denen. Dann kristallisierte sich heraus, dass die Verkäufe von True Vintage in Europa unter dem Brexit leiden würden. Das war der Anstoß für Zeitgeist.

Der Name ist Programm. Secondhand ist ein Zeitgeist-Phänomen. Wie erklären Sie sich das?
Ich beantworte die Frage mit einer Geschichte. Ich liebe Geschichten. Meine Oma musste im Krieg ihre Stadt verlassen und wohnte im Armenhaus. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als gebrauchte Kleidung aufzutragen. Für sie war das ein Graus. Meine Eltern sind dann in einer Zeit aufgewachsen, in der das Sterben der Tante Emma-Läden einsetzte und Warenhäuser wie Kaufhof Saisonware anboten, die das widerspiegelte, was in den Modemetropolen wie Mailand angesagt war. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo wir schauen müssen, welche Gewohnheiten aus der Zeit meiner Großmutter eigentlich gut waren. Dinge reparieren, Dingen ein zweites Leben schenken. Ich bin der Meinung, dass die gesamte Gesellschaft, also Händler, Hersteller und Verbraucher, die Verantwortung haben, ihren Konsum neu zu denken.

Wie würden Sie Ihre Mission beschreiben?
Wir und unsere Kunden haben einen gemeinsamen Bildungsauftrag. Wir sind gegenseitige Rezipienten und müssen lernen, wie das ‚Weniger ist mehr‘ funktioniert.

Was zeichnet Ihr Sortiment aus?
Wir sind mit 2000 Produkten live gegangen. Das ist für die Branche extrem viel. Inzwischen hat der Kunde verstanden, dass er bei uns etwas findet und richtig stöbern kann. Die erste Assoziation mit Vintage sind amerikanische T-Shirts und Sweatshirts aus den 90er-Jahren. Wir haben das natürlich auch, aber auch um Business-Outfits und Anlassmode erweitert. Wir sind bekannt dafür, dass wir Latzhosen, Jeans-, Cord- und Stoffhosen sowie Blazer und Röcke verkaufen. Seit unserem Start haben wir 16.000 Pieces digitalisiert und ungefähr 7000 verkauft. Aktuell haben wir rund 10.000 Produkte auf Lager. Wir führen die gängigen Sportmarken wie Nike, Adidas und Puma, aber auch ausgefallenere Labels wie Northern Reflections, Best Company oder HBO. Sie stehen für Made in USA, Made in Canada und Made in Italy. Die Stoffqualität ist richtig toll.

Nike, Puma, Best Buy: Auf Zeitgeist gibt es Sportswear, aber auch Formalwear.
Zeitgeist
Nike, Puma, Best Buy: Auf Zeitgeist gibt es Sportswear, aber auch Formalwear.

Wie hoch ist der durchschnittliche Bestellwert?
Momentan liegt unser durchschnittlicher Warenkorb bei knapp 50 Euro. Unser Ziel ist es, den Wert auf 60 Euro zu erhöhen. Wir sind da etwas naiv gestartet. Bei uns ist der Versand kostenlos, die Retoure kostet. Um die Ausreißer nach unten zu verhindern, also Einzelbestellungen für 4,90 Euro oder 9,90 Euro, werden wir künftig mit einem Mindestwarenkorb arbeiten. Ab einem Mindestbestellwert wird der Versand kostenlos sein. Die Retouren werden kostenlos sein.

Man gewinnt den Eindruck, dass viele sich in den Secondhand-Handel stürzen. Welches sind die größten Herausforderungen, die Gründer meistern müssen, um sich durchzusetzen?
In vielen Geschäftsmodellen fließt wenig Energie in den Einkauf. Das ist bei Secondhand und Vintage ganz anders. Hier ist der Einkauf das wichtigste in der Firma. Es geht darum, Top-Ware zum Top-Preis zu bekommen. Die zweite Hürde ist die Massendigitalisierung. Es ist notwendig, in hohem Tempo Ware zu digitalisieren. Da geht es um mehr als nur Fotos knipsen. Drittens muss man einen Weg finden, wie man mit den Größenangaben umgeht. Wir haben eine eigene Größenlogik entwickelt. Wir vermessen die Teile an verschiedenen Punkten und verpassen ihnen eine Zeitgeist-Größe, die unabhängig von der Hersteller-Größe ist. Wenn sich der Kunde einmal mit dieser Logik vertraut gemacht hat, dann kann er sehr sicher einkaufen. Das hat so kein anderer Vintage-Shop.

Wie wichtig ist im Secondhand-Handel, dass schnell geliefert wird?
Amazon hat die Kundenerwartung im E-Commerce definiert. Unabhängig davon, um welche Arten von Waren es sich handelt. Wir haben Marktforscher eingeschaltet, die Kunden befragt haben. Auf einer Skala von 1 bis 10 wurde die Bedeutung der Liefergeschwindigkeit mit nur etwas mehr als 5 beziffert. Die Realdaten sprechen allerdings eine andere Sprache. Wir haben festgestellt, dass sich mit jedem Tag, der vergeht, die Retourenwahrscheinlichkeit erhöht.

Sie inspirieren mit Outfits. Wer hat bei Ihnen die Trends im Blick?
Wir haben einen Marketingchef. Allerdings haben wir den Eindruck, dass Trendanalyse Bottom-up funktioniert. Wir fragen unsere Fotografen, unsere Praktikanten und Mitarbeiter, die die Ware digitalisieren, was sie gesehen haben und was ihnen aufgefallen ist. Das passiert bei politischen Themen wie bei Modetrends. Das ist sehr demokratisch. Umso weiter man oben in der Hackordnung steht, umso weniger hat man zu sagen. Ich habe meine Meinung schon gebildet. Dadurch ist sie automatisch weniger innovativ als die eines Mitarbeiters, der gerade von der Uni kommt.

Viele Modelabels sprechen von der Community. Sie auch?
Seit es uns gibt, haben wir rund 4500 Kunden beliefert. Mit einem Zehntel von ihnen tauschen wir uns regelmäßig aus. Sie schreiben uns und geben uns Rückmeldung darüber, was ihnen gefallen und missfallen hat. Von daher ist bei uns der Community-Gedanke auf jeden Fall da. Dass wir das ernst nehmen, sehen wir an den guten Bewertungen im Netz. Nichtsdestotrotz halten wir uns mit dem Wort zurück. Denn für die meisten Modelabels ist Community einfach ein schöneres Wort für Top-Kunden. Jeder in der freien Wirtschaft kümmert sich um die VIP-Klientel.

Sie verkaufen auch über Marktplätze. Wie wichtig ist das für Sie?
60% unseres Umsatzes erzielen wir über den Webshop, 25% über unseren stationären Laden. Die Marktplätze steuern die restlichen 15% bei. Wir verkaufen über Asos, Grailed und Depop. Auf Asos sind wir einer der Händler außerhalb Großbritanniens, der am schnellsten wächst. Auf Depop sind wir unter den Top 400 Händlern weltweit. Wir probierten es auch über Etsy, kamen da aber nicht wirklich voran. Jetzt wird Depop ja von Etsy übernommen. Gucken wir mal, wie sich das entwickelt.

10.000 Artikel auf Lager: Das Warenlager befindet sich in Hamm Süd.
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10.000 Artikel auf Lager: Das Warenlager befindet sich in Hamm Süd.

Verdienen Sie mit dem Marktplatz-Verkauf Geld?
Wir haben uns eine Handelsmarge als Ziel gesetzt. In der Wachstumsphase ist die tiefer angesetzt. Die Mehrkosten, die über den Marktplatz-Verkauf entstehen, haben wir natürlich berücksichtigt. Auf Asos fällt eine Gebühr von 20% zuzüglich Marketingkosten an. Das nehmen wir in Kauf, schließlich erreichen wir durch Asos Kunden in Großbritannien. Auf Depop sind es 10% zuzüglich Marketingkosten. Auf Grailed war die Gebühr am Anfang sehr tief. Jetzt bewegt sie sich bei etwas weniger als 10%. Marketingkosten fallen nicht an.

Grailed, Depop sind Nischen-Marktplätze. Werden sie dauerhaft gegen Amazon bestehen?
Wer ein Fahrradschloss braucht, kauft es auf Amazon oder Ebay. Mode ist hingegen eines der wenigen Segmente, bei denen Amazon historisch schwach ist. Meines Erachtens liegt das daran, dass sich Menschen stärker mit Mode als mit dem Kauf eines Fahrradschlosses auseinandersetzen. Mode ist Liebhaberei, da braucht es einen eigenen Raum dazu. Wie ein Hobbyzimmer. Amazon ist ein Marktplatz für all das, was keine Liebhaberei ist. Depop und Grailed sind Nische. Da sie aber internationale Bestrebungen haben, sind die Nischen nicht klein. Von denen ist noch viel zu erwarten. Ich mache mir darüber keine großen Sorgen.

Zeitgeist bedient auch eine Nische. Wie groß kann die werden?
Unsere Vision ist es, der führende Marktplatz in Europa für den nachhaltigen Einkauf von Bekleidung zu werden. Wir bieten alles aus einer Hand. Ich sehe das Liefern aus dezentralen Lagern für kritisch. Es ist doch absurd, dass ein Kunde für fünf separate Pakete jedes Mal an der Tür stehen muss. Amazon hat sich gegen Ebay durchgesetzt, weil Amazon ein klares Leistungsversprechen abgeben hat. Die Bestellung wird in einem Paket möglichst schnell und in gutem Zustand geliefert. Wir eröffnen gerade unsere dritte Lagerfläche in Hamm Süd. Ende nächsten Jahres werden wir rauswachsen.

Die Kapitalgeber klopfen schon an die Tür?
Wir suchen den Kontakt zu Investoren. Es wäre toll, einen Business Angel für uns zu gewinnen. Bislang zweifeln Wagniskapitalgeber die Größe des Vintage-Markts an. Die fragen uns: ‚Warum ist denn Momox nicht größer geworden?‘ Auf die USA, wo ThredUp bemerkenswerte Dimensionen erreicht hat, schauen sie gar nicht. Stattdessen schmeißen sie Lieferdiensten die Millionen regelrecht hinterher, weil Gastronomie ein Riesenmarkt aus. Dabei blenden sie aus, dass man sich das Operative bei diesen Lieferdiensten schönrechnen muss. Im Gegensatz dazu sind wir zu 100% kaufmännisch solide. Ich bleibe aber dran. Denn als Gründer muss ich mich mit dem Zugang zu Kapital befassen. Ganz ohne Geld wird das nichts.

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