Zwischen Realismus und Eskapismus. Die Klimakrise und ihre Folgen sind auch in der Mode allgegenwärtig. Wie sich das gesellschaftliche Zeitgeist-Thema schlechthin auf die Kreativen und Ihre Kollektionen auswirkt, zeigten die Trend-Experten des Deutschen Modeinstituts auf dem DMI Fashion Day zum Frühjahr 2021 in Düsseldorf.
Laut Carl Tillessen Autor und Zeitgeistexperte des Deutschen Mode-Instituts (DMI) hat diese innerliche Zerrissenheit auch die Designer der großen Luxus-Brands längst erreicht. „Der Weltuntergangsstimmung konnte sich auch die Mode nicht entziehen. Besonders in den aktuellen Winter-Kollektionen hat der dystopische Zeitgeist seine Spuren hinterlassen. Die Modedesigner verliehen ihren Sorgen und Ängsten durch düstere Kollektionen Ausdruck.“
Doch weil der Ausnahmezustand inzwischen zum Dauerzustand geworden ist, bedarf es einer neuen Denkweise. Tillessen nennt es die „Momente der Befreiung“, die nun zunehmend von den Kreativen in ihren Inszenierungen forciert werden, um das in Schieflage geratene Gleichgewicht aus negativ und positiv wieder in eine verträgliche Balance zu bringen.
„Detox your mind“ heißt deshalb das Motto des Deutschen Mode-Instituts zum Fashion Day und für die Kollektionen zum Frühjahr/Sommer 2021. „Wir wollen uns wieder gut fühlen mit dem, was wir tun, wie wir es tun und wer wir sind“, sagt DMI-Geschäftsführer Gerd Müller-Thomkins und betont: „Gemessen an dem ganzheitlichen Bedürfnis nach Nachhaltigkeit waren bisherige Wellness-Angebote lediglich Streichelmassagen für die Seele – jetzt scheint es vielmehr um eine Grundreinigung zu gehen.“
Ein Schlüssel, um den Wohlfühlfaktor auf Seiten der Menschen wiederherzustellen und gleichzeitig dem Ernst der klimatischen Lage Tribut zu zollen, liegt aus Sicht von Tillessen in der Beziehung zur Natur.
„Nature Priming“ heißt der Oberbegriff für das, was bereits in den Kampagnen der Luxus-Brands zum Herbst zu sehen war. Egal ob Tod’s, Miu Miu, Marni, Valentino, Prada oder Kenzo: Sie alle haben sich demselben Stilmittel bedient und ihre eher düsteren Winter-Looks in der Natur inszeniert. „Obwohl es sich bei den Anzeigenmotiven eigentlich um Winterkollektionen handelt, scheint auf allen Bildern die Sonne, es ist warm, das Gras ist grün und die Blüten blühen.“
DMI-Trendscout Niels Holger Wien spricht in diesem Kontext von „Green Evidence“. „ Man will die Natur fühlen, riechen, anfassen, ja sogar schmecken, wie bei Valentino zu sehen, wo ein weibliches Model der Natur einen Zungenkuss gibt.“ Das alles diene dazu, sich selbst zu vergewissern, dass es sie überhaupt noch gibt. Tillessen geht sogar einen Schritt weiter und spricht bei all der Intimität von einer Art „Versöhnungssex“.
Um das zarte Band zur Natur weiter zu festigen, halten Elemente aus Wald und Wiese nicht mehr nur Einzug in die Kampagnen, sondern werden mit der Kleidung verwoben. Während Fendi die Männer in Gärtner-Looks mit Gießkanne in der Hand durch einen Park flanieren lässt, tragen die Models bei Dolce & Gabbana Pflanzen im Haar. Und bei Dior, Versace und Noir imitieren die Looks die Natur so sehr, dass sie zu einer Einheit verschmelzen.
Die Bedeutung des Nature Primings findet sich auch in den Dessins und Farben wider, die das Bild zum Frühjahr 2021 prägen. „Auf der einen Seite sehen wir viele Unis, die über Oberflächen Spannung erhalten. Authentische Naturfasern wie Leinen, Hanf und Canvas unterstreichen die Botschaft. Auf der anderen Seite spielen getrocknete Pflanzen, ebenso wie abstrakte, tropisch-inspirierte Blattmotive eine wichtige Rolle“, sagt DMI-Material-Experte Winfried Rollmann. Darüber hinaus sei Handwerk ein essenzieller Bestandteil der Looks, der sich sowohl über Denim als auch über Jacquards und Stickereien zeige.
In puncto Farbe wird Grün eine übergeordnete Bedeutung beigemessen, wenn es darum geht, die neue Naturverbundenheit der Mode zum Ausdruck zu bringen. Die Inspirationsvielfalt reicht hier vom eigenen Gemüsegarten bis hin zu intensiven Chlorophyll-Tönen aus dem Regenwald. Wichtig werden natürliche Baumwoll-Weiß-Töne, die auch die Recycling-Gedanken aufgreifen. Aber auch im gesellschaftspolitischen Kontext erfüllt Weiß eine Funktion.
„Die Sehnsucht nach Weiß ist immer dann groß, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Man denke nur an die Nachkriegszeit und den sogenannten Persilschein“, erklärt Tillessen. Wenn die Welt schon untergehe, dann wolle man es wenigstens nicht gewesen sein. Deshalb bescheinige man sich einfach eine Weste. Weiß stehe für Reinheit und Unschuld.
Das Spannungsfeld, indem sich die Mode zurzeit bewegt, könnte also kaum größer sein. Der Spagat aus aufrüttelndem Realismus und beruhigendem Eskapismus ist gewagt, aber notwendig. „Angst ist nicht nur ein schlechter Designer, sondern auch ein schlechter Ein- und Verkäufer“, resümiert Tillessen. „Mode hat jetzt mehr denn je die Aufgabe, ein Seelenpflaster zu sein.“